Sei einfach mal fünf Minuten ehrlich zu Dir
Ok, dann sind wir doch mal fünf Minuten ehrlich miteinander:
Hier wird der "guten alten Zeit" hinterher gejammert, als Joomla noch nennenswerte Verbreitung im Massenmarkt hatte. Was zeichnet diesen Markt aus? Es sind Seiten mit oftmals überschaubarer Komplexität, die möglichst günstig realisiert werden sollen. Technische Aspekte wie wartbarer Code, Barrierefreiheit, Skalierbarkeit und co - kurz die technische "Sexyness" spielen für diese Seiten überhaupt keine Rolle. Es muss einfach nur laufen und der Endnutzer muss in der Lage sein, möglichst trivial Inhalte einzufügen. Kernelement, damit das überhaupt geht, ist ein möglichst großes Ökosystem an Extensions, damit man sich Anforderungen einfach durch drölfzig zusammengeklickte Extensions aus dem Regal lösen kann. Ohne Ökosystem ist der Massenmarkt nicht bespielbar.
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Wirtschaftlich ist dieser Markt in einem enormen Konkurrenzdruck. Es wird zu teils abstrusen Stundensätzen gearbeitet und an der nächsten Straßenecke stehen drei Studenten die deine Sätze noch unterbieten.
Jetzt kommt die Wahrheit: Dieser Markt ist für Joomla unwiderruflich verloren. Er wird derzeit von WordPress dominiert – wobei WordPress den Druck der SAAS Site Builder wie WIX, Jimdo und co spürt, was dann z.B. unmittelbar zu Gutenberg als Reaktion geführt hat. Joomla ist im Vergleich zu diesen Systemen zu komplex, hat eine zu steile Lernkurve und ein zu kleines Ökosystem bei den Extensions - deswegen ist meine persönliche Wahrnehmung, dass viele tragende Personen im Joomla-Projekt die Strategie "Rückeroberung" schlicht aufgegeben haben und die Ressourcen lieber in die Fokussierung auf andere Marktsegmente konzentrieren wollen.
Und jetzt kommt das Entscheidende: die Frage, ob das ein Problem ist oder nicht, hängt schlicht von der Perspektive ab. Ist der eigene Fokus der Massenmarkt, weil man sich z.B. mit Schulungen an Endkunden richtet oder im "normalen" Shared-Hosting Markt unterwegs ist, dann ist das selbstredend ein Problem. Gleiches gilt auch, wenn man als Agentur/Freelancer diesen Markt als Fokus hat oder gar im Extensions Business unterwegs ist. Wer diese Bereiche bespielt, muss sich offen und ohne Groll mit der Frage auseinander setzen, ob Joomla das richtige System ist. Die Energie in die Beschäftigung mit dieser Frage ist vermutlich produktiver investiert, als in endlose, fruchtlose Diskussionen hier in diesem Forum.
Wer hingegen Projekte umsetzt, die sich über höhere Komplexität, spezifische technische Anforderungen, einen Bedarf an Individualentwicklungen o.Ä. definieren, wird keine Träne vergießen, wenn Joomla sich hier klarer auf dieses Segment spezialisiert. Die Projekte in diesem Bereich sind in der Regel deutlich umfangreicher, lukrativer und der Konkurrenz- und vor allem Preiskampf ist ungleich kleiner. Wer diesen Bereich bereits bespielt kommt mit Joomla in meiner Wahrnehmung hervorragend klar.
Last but not least noch ein weiterer Gedanke hierzu:
Ist euch klar, warum Core-Entwickler an WordPress arbeiten? Richtig: sie werden dafür bezahlt. Von Automattic, von Google, von großen Agenturen mit teils mehreren hundert Mitarbeitern. Es gibt nur eine verschwindend geringe Anzahl an regelmäßigen Core-Contributern, die als Freiwillige an WP arbeiten? Und wisst ihr warum: weil das aus Entwicklersicht wirklich überhaupt garkeinen Spaß macht. WordPress Core Code ist nämlich insbesondere auf PHP-Seite ein ziemlich veralteter, fieser Rotz, den heute niemand mehr in dieser Form produzieren würde. Weil man sich aber auf den Massenmarkt fokussiert und daher keine großen Technologiesprünge gehen (Stichwort "Migrationsgejammer"), muss dieser riesige Haufen tote Katzenbabies irgendwie weiter gepflegt werden - das macht man für Geld, aber bestimmt nicht weil es so hochgradig spaßig ist.
Bei Joomla ist die Ausgangssituation völlig anders: jeder in diesem Projekt arbeitet freiwillig - das bedeutet man muss die Leute rekrutieren, motivieren und bei der Stange halten - und das geht nunmal nicht mit der Losung "bloß keine coolen Technologien, hier bleibt alles wie es ist" zusammen.